Jump to Navigation

Projekte solidarischer Landwirtschaft in der Stadtregion Bogotá

In der Metropolregion Bogotá entstehen vermehrt Projekte solidarischer Landwirtschaft zwischen Stadt und Land. Sie wollen die regionale Nahrungsproduktion stärken und einen fairen Handel zwischen Stadt und Land aufbauen. Die Initiativen sind eine Antwort auf die Krise im kolumbischen Agrarsektor. Von Birgit Hoinle

Samstagmorgen um sieben Uhr inmitten des Stadtviertels Engativá: Zwischen dem Straßenlärm dröhnt das Rauschen der Flugzeuge, die gefühlt im Zehnminutentakt zur Landung auf dem Hauptstadtflughafen ansetzen. Im Hauseingang von Nilson Morales, einem Aktivisten, türmen sich grüne Kisten mit frischem Obst und Gemüse, mit Kartoffeln, Quinoa, Erdbeeren und Limetten. Selbstgemachter Joghurt aus Andenbeeren aus Usme, am Südrand von Bogotá, und Produkte von weiteren Kooperativen sind bereits eingetroffen. Jetzt muss noch alles auf die richtigen Kisten verteilt werden. Danach kommt die Ware in einen Transporter und die Reise der Gemüsekisten quer durch die Acht-Millionen-Metropole beginnt. Bei etwa 30 Haushalten, die in Bogotá pro Woche von der Agrosolidaria beliefert werden, kann dieses logistische Unterfangen einen ganzen Tag in Anspruch nehmen.

 

Die Agrosolidaria ist nur eine von mehreren Initiativen solidarischer Landwirtschaft, die in der kolumbianischen Hauptstadt Bogotá aufgekommen sind. Gerade der Agrarstreik im Jahr 2013 hat das Thema Ernährung in der Hauptstadt in die Debatte gebracht. Nach dem Abschluss der Freihandelsabkommen mit den USA 2012 und der Europäischen Union 2013 waren viele kleinbäuerliche Vereinigungen in Streik getreten, da sie mit den importierten und subventionierten Lebensmitteln aus der EU – vor allem Milchprodukte – kaum konkurrieren können. Bereits im Vorfeld hatte Kolumbien mit einer Reihe an Gesetzen und Verordnungen den Boden für das Abkommen geebnet: Mit dem Gesetz 1518 von 2012 und der Verordnung 970 ist Kolumbien dem internationalen Sortenschutzabkommen UPOV beigetreten, das jedoch zu einer Kriminalisierung kleinbäuerlicher Traditionen des Nachzüchtens und Tauschens von Saatgut führt. Die damit zusammenhängende Konfiszierung und Zerstörung von 70 Tonnen lokal produzierten Reis durch das Landwirtschaftsministerium war eines der ausschlaggebenden Ereignisse, an denen sich der Agrarstreik 2013 entzündete. Die ursprünglich von KleinbäuerInnen hervorgebrachten Proteste weiteten sich über das ganze Land aus und weitere Organisationen schlossen sich an, darunter indigene Vereinigungen, BergbauarbeiterInnen und im weiteren Verlauf auch überregionale Netzwerke wie der Agrargipfel und Studierendengruppen in der Stadt. Die Regierung ging gegen die Proteste vor, u.a. mit Aufstandsbekämpfungseinheiten (ESMAD). Seit 2013 wird der Streik regelmäßig wiederholt, da die Regierung den ausgehandelten Vereinbarungen nicht nachkommt. Zuletzt wurden im Mai 2016 die Autobahnen im Süden Kolumbiens für zwei Wochen blockiert. Durch den Agrarstreik beschäftigen sich auch in Bogotá immer mehr Menschen mit der Herkunft dessen, was auf ihrem Teller landet.

 

Wem gehört das Umland?

 

Die solidarische Landwirtschaft in Kolumbien ist vielfältig strukturiert. Auf der einen Seite gibt es Projekte, die wie die Agrosolidaria aus lokalen selbstorganisierten Initiativen entstanden sind. Daneben gibt es Projekte mit Bio-Gemüsekisten, die von der internationalen Entwicklungszusammenarbeit initiiert werden. So proklamiert beispielsweise die französische NGO Projeter sans Frontières: „Wir verbinden den Süden mit dem Norden der Stadt“, was auf den ersten Blick angesichts der extremen sozialräumlichen Ungleichheit in Bogotá progressiv klingt. Bei genaueren Hinsehen zeigt sich, dass die Gemüsekisten von den urbanen und periurbanen Gärten im Süden Bogotás von den NGO-MitarbeiterInnen abgeholt und an Haushalte im reichen Norden der Stadt geliefert werden. Ein zweiter Blick ist also erforderlich, um zu sehen, inwieweit die Projekte im Sinne der Ernährungssouveränität tatsächlich für eine lokale Kontrolle von Lebensmittelproduktion und -konsum sorgen und eine gewisse Unabhängigkeit von kapitalistischen Marktmechanismen erreicht wird.

 

Die Confederación Agrosolidaria wurde bereits vor über 20 Jahren von kleinbäuerlichen, indigenen und afrokolumbianischen Kooperativen sowie stadtnahen Produktionsgemeinschaften gegründet. Das Netzwerk ist mit dem Ziel entstanden, angesichts der Bedrohungen durch bewaffnete Gruppen im kolumbianischen Bürgerkrieg den Zugang zu Territorien über den Aufbau kooperativer Strukturen zu erhalten. Seit vier Jahren verbindet der Netzwerk-Knotenpunkt Bogotá kleinbäuerliche Kooperativen direkt mit AbnehmerInnen in der Stadt. Ein zentrales Motiv war, angesichts der steigenden Importe industrialisierter Lebensmittel, gesundes Essen für die Kinder zu beschaffen und dass sich dabei StädterInnen und Familien auf dem Land solidarisieren. Ein Kernprinzip beim Projekt solidarischer Landwirtschaft der Agrosolidaria ist, dass Bio-Lebensmittel für alle Einkommensschichten Bogotás zugänglich sein sollen. Deshalb reisen die Gemüsekisten hier von den Mittelklassebezirken im Norden bis zu den Barrios der Unterschicht im Süden der Stadt.

 

Die Organisierung von ferias agroecológicas (Regionalmärkten) bildet einen weiteren Baustein der Verteilung. Die Projekte der solidarischen Landwirtschaft sind so auch eine Brücke zwischen Stadt und Land. Die Bedeutung dieser Verbindungen ist angesichts der sozialökologischen Ungerechtigkeiten zwischen urbanem und ruralem Raum besonders wertzuschätzen. Gerade im Umland von Bogotá fanden in den letzten Jahren tiefgreifende Transformationen der Landschaft statt.

 

Blumen für den Weltmarkt …

 

Ein Beispiel dafür ist die Sabana de Bogotá. Noch vor Millionen Jahren eine Seenlandschaft weist diese Region heute die fruchtbarsten Böden des Landes auf und bietet ideale Voraussetzungen für den Anbau von Lebensmitteln. Über lange Zeit bezeichnete man die Sabana als Vorratskammer für Bogotá. In den letzten Jahrzehnten kam es jedoch zu einer Expansion des exportorientierten Agrobusiness. So wurde die Gemeinde Madrid in der Metropolregion Bogotá eine Hauptstadt der Blumenproduktion. In unzähligen Gewächshäusern, die sich wie ein weißes Meer über die Sabana ausbreiten, arbeiten vor allem Frauen im Akkord in der Blumenzucht.

 

Gerade für Menschen, die im kolumbianischen Bürgerkrieg vertrieben wurden, finden sich hier erste Arbeitsmöglichkeiten, die ansonsten rar sind. Doch die Folgen der Arbeit in den Gewächshäusern sind verheerend: Im Zuge der neoliberalen Reformen seit den 1990er Jahren wurden die Arbeitsrechte massiv eingeschränkt, was sich unter anderem in extensiven Arbeitszeiten niederschlägt: Vor Nachfragehöhepunkten wie dem Valentinstag oder dem Muttertag kann sich der Arbeitstag auf bis zu 22 Stunden ausdehnen. Arbeitende Mütter treffen ihre Kinder dann nur in schlafendem Zustand an, was einen zusätzlichen psychologischen Druck und Rollenkonflikte mit sich bringt. Dazu meint Mercedes Bojaca, die bereits in den 1980er Jahren eine der ersten Frauenorganisationen in Madrid gegründet hat: „In jeder Blüte dieser Blumen steckt die Würde der Frauen, die hier arbeiten, und das Wasser unseres Landes, das hier exportiert wird.“ Denn auch die ökologischen Konsequenzen dieser Blumenproduktion sind problematisch: 80 der 87 Wasserquellen von Madrid sind für die Unternehmen der Blumenproduktion vorgesehen. Sie verunreinigen das Grundwasser durch den massiven Einsatz von Pestiziden. Viele Ackerböden wurden durch die Blumenproduktion langfristig degradiert.

 

Diese Landschaftstransformation wird mit den Freihandelsverträgen weiter beschleunigt. Seinen Niederschlag findet dies zum Beispiel in Form der Zonas Francas. Solche Logistikzentren zur Verteilung von Import- und Exportgütern fressen die Flächen ebenso weg, wie auch die Ausweitung des internationalen Flugverkehrs: Der neue Flughafen El Dorado II soll mit einer Fläche von 1.350 Hektar zwischen Madrid und Facatativá entstehen, den Hauptzentren der Blumenexportproduktion, und diese noch direkter in den Weltmarkt einbinden.

 

Die kleinbäuerliche Landwirtschaft, wie etwa der regionale Kartoffelanbau, wird dadurch verdrängt und muss in höhere Bergregionen ausweichen. Meist finden die Kleinbauern und -bäuerinnen neues Terrain in den sogenannten Páramos. Das sind Ökosysteme, die sich oberhalb der Baumgrenze befinden und eine einzigartige Flora und Fauna aufweisen. Im Norden der Sabana kommt es zu einer anderen Art des Konflikts um unterschiedliche Landnutzungen: Neue Gated Communities werden dort ebenfalls auf fruchtbaren Ackerboden gebaut. Die Bauprojekte weisen zum Teil neokoloniale Namen auf, wie etwa „Hacienda Blanca“ (Weißes Landgut). Die Ungleichheiten zwischen Stadt und Land bringt eine Bewohnerin so auf den Punkt: „Manche haben Wasser zum Golfspielen, andere nur in den Morgenstunden.“

 

oder besser Mais für alle?

 

Angesichts dieser Raumaneignungen, die mit der sozialen Monopolisierung und agrarischen Monokultivierung der Stadtregion Bogotá einhergehen, stellen die Projekte solidarischer Landwirtschaft wichtige Widerstandspunkte dar. Ein Beispiel dafür ist das Netzwerk für Ernährungssouveränität Red Raíces de la Sabana, in dem sich 13 Gruppen zusammengeschlossen haben, darunter Gemeinschaftsgärten und Frauengruppen. Das Netzwerk will die Territorien der Sabana für den Nahrungsmittelanbau sichern und gleichzeitig eine ökonomische und ökologische Alternative für ehemalige Blumenarbeiterinnen aufbauen. Dabei bilden solidarökonomische Organisationsformen ein Schlüsselelement. So werden regelmäßig Mingas durchgeführt, gemeinsame Arbeitsaktionen zur gegenseitigen Unterstützung in den verschiedenen Gärten – eine Praxis, die auf die Traditionen andiner indigener Gemeinschaften zurückgeht. Daneben stellen gemeinsame Güter und Ressourcen, wie etwa ökologisches Saatgut und das damit verbundene Wissen, eine Art Commons dar, die im Netzwerk weitergegeben werden. Weiter gelingt es dem Netzwerk Red Raíces durch Aktionen und Gegenveranstaltungen wie dem Festival de Maíz (Maisfestival) in Madrid, Themen wie Ernährung und Wasser kritisch in die Öffentlichkeit zu tragen.

 

Die Projekte bieten darüber hinaus eine Möglichkeit für Selbstermächtigungsprozesse von Frauen. Den ehemaligen Blumenarbeiterinnen im Netzwerk Red Raíces erschließt gerade die solidarökonomische Organisationsform neue Handlungsräume, um die Erwerbsarbeit mit der Care-Arbeit zu verbinden, wie etwa der Kinderbetreuung. Die Aktivistin Viviana Alfonso sagt dazu: „Der Vorteil für mich war, dass ich bei dieser Arbeit meinen Sohn immer dabei haben konnte, in der Aussaat und beim Verkauf.“ So erlangen die Frauen auf den oben genannten Regionalmärkten mehr Sichtbarkeit und Anerkennung und werden in ihrer Rolle als eigenständige Produzentin gestärkt.

 

Die Projekte tragen so, wenn auch in einem kleinen Rahmen, zur gerechteren Ausgestaltung ungleicher Stadt-Land-Beziehungen bei. In (peri-)urbanen Gemeinschaftsgärten oder Regionalmärkten wird agrarökologisches Praxiswissen zwischen Stadt und Land ausgetauscht. Schon die Projekte selbst stehen der hegemonialen Raumaneignung entgegen. So berichtet die Ökobäuerin Chestin Cardona aus der Gegend von Usme, dass seitens Stadtverwaltung und Bauunternehmen die Flächen im stadtnahen Raum als „leer“ oder „unfruchtbar“ bezeichnet werden. Das liefert eine Legitimationsvorlage für die Bebauung der Gebiete. Der Zugang zu Land stellt gerade im Umland der Hauptstadt eine der größten Schwierigkeiten für Landwirtschaftsprojekte dar. Strategien der Sichtbarmachung der agrarökologischen Produktion sind daher nötig, um das Territorium als Lebensgrundlage vieler Familien zu verteidigen. Dabei ist auch die Verbindung zu den Menschen in der Stadt essentiell – über die Gemüsekisten, aber auch in Form politischer Solidarität.

 

Der derzeitige Friedensprozess und der Umgang mit den insgesamt sieben Millionen Vertriebenen des Bürgerkrieges, die vor allem am Stadtrand und im Umland von Bogotá ankommen, stellen Kolumbien vor eine große Herausforderung. Dabei ist es unerlässlich, auch die sozialökologischen Konfliktlinien zwischen Stadt und Land zu bearbeiten. Die Projekte solidarischer Landwirtschaft in Kolumbien bieten ein Beispiel, wie Ernährungskreisläufe lokaler und sozialökologisch gerechter gestaltet werden können – und sie zeigen auf eine friedliche Alternative gemeinsamen Wirtschaftens. Die Projekte haben jedoch mit einer Vielzahl an Schwierigkeiten zu kämpfen. Der Transport und die Logistik, um die agrarökologischen Produkte tatsächlich vom Acker in die Stadt zu bringen, stellen eine der größten Hürden dar, um solidarische Landwirtschaft umzusetzen. Die Regierung setzt weiterhin auf Exportorientierung und Agrobusiness. Für die AkteurInnen ist es eine Form des Widerstands, das Recht auf eine selbstbestimmte Ernährung und das dafür nötige Territorium zu verteidigen, denn so Nelly Guevara, eine ehemalige Blumenarbeiterin, die jetzt im Netzwerk Red Raíces de la Sabana aktiv ist: „Ich esse keine Blumen“.

 

Birgit Hoinle ist Geographin und Bildungsreferentin für Globales Lernen im Programm „Bildung trifft Entwicklung“. Sie promoviert an der Uni Hamburg zu (peri-)urbaner Landwirtschaft und Empowermentprozessen in Kolumbien und ist Teil des Netzwerks Kritischer Geographien Lateinamerikas „GeoRaizAL“.

 

---

 

INFOKASTEN:

 

Solidarische Landwirtschaft in Kolumbien

 

Eine solidarische Landwirtschaft (Solawi) besteht aus einer Gemeinschaft von ProduzentInnen und aus einer festen AbnehmerInnenschaft für die Agrarprodukte. Die Gurken dürfen dabei auch einmal krumm sein, denn beim Gemüse stehen Regionalität und Saisonalität im Vordergrund. Das solidarische Element besteht sowohl im ökonomischen Ausgleich zwischen den beteiligten Haushalten als auch gegenüber dem Bio-Bauernhof, der aus der direkten Abhängigkeit von den volatilen Preisen am Lebensmittelmarkt entlassen wird.

 

In Kolumbien sind in den letzten Jahren viele solcher Initiativen entstanden. Oftmals geht es darum, in Anbetracht sinkender Erlöse einen „fairen Handel“ zwischen Stadt und Land aufzubauen. Die meisten Projekte solidarischer Landwirtschaft in Kolumbien sind in Verbindung mit kleinbäuerlichen Kooperativen oder familiär geführten Bauernhöfen am Stadtrand entstanden. Sie suchen den direkten Draht zu interessierten Menschen in der Stadt, um dem Preisdiktat der ZwischenhändlerInnen zu entkommen. Allerdings fehlt es oft an der erforderlichen Logistik und dem Knowhow für die Direktvermarktung. Gerade in den letzten Jahren sind einige Gruppen in der Stadt entstanden, zum Teil aus studentischem Milieu, zum Teil von lokalen NGOs, die diese Hürden überbrücken möchten, zum Beispiel über innovative Internet-Tools.

 

Die größte Vereinigung solidarischer Landwirtschaft ist die Agrosolidaria, die insgesamt im Jahr 120 Haushalte in Bogotá beliefert und als landesweites Netzwerk seit über 20 Jahren besteht. Daneben gibt es viele weitere Circuitos agroalimentarios, die neben den Gemüsekisten oft auch auf Bauernmärkten präsent sind und somit unterschiedliche soziale Schichten erreichen. Andernteils stoßen diese Projekte auf eine zunehmend an Bio-Produkten interessierte Mittelschicht in den Großstädten wie Medellín oder Bogotá.

 

Erschienen in der IZ3W 360.



Main menu 2

by Dr. Radut